Auf der Lauer sein

In seinem Buch „Der Schneeleopard“, erzählt der Autor Sylvian Tesson eine interessante Begebenheit. Er ist tagelang unterwegs im Himalaja, um den äußerst seltenen Schneeleoparden zu fotografieren. Viele einsame Tage und Nächte hat er mit seinen drei Gefährt*innen draußen verbracht. In dichter Sprache beschreibt er die Stille, die Melancholie und die Schönheit der Natur.
Begegnungen mit dem Schneeleoparden sind aber äußerst selten. Auf seiner Reise lässt sich dieses stolze Tier viermal blicken, Tesson spricht von Erscheinungen. Wieder zurück daheim in seinem Atelier schaut er eine Aufnahme an, die er auf seiner Reise vor Monaten geschossen hat. Im Zentrum sieht man einen lederfarbenen Falken, der auf einem mit Flechten überzogenen Felsen sitzt. Und da sieht er auf einmal am Rand des Fotos etwas, was ihm bisher gar nicht aufgefallen ist. Hinter einer Felskante fixiert ihn der Blick des Schneeleoparden.
Für Sylvian Tesson hat diese Entdeckung Verweisfunktion. Unser Auge wählt in der Regel den Weg des geringsten Widerstandes. Es sieht vor allem das, was es kennt, das allzu Vertraute. Unser Blick bestätigt das, was wir immer schon zu wissen glauben. Für die Randbereiche der Wirklichkeit aber ist uns der Blick oft verstellt. Geblendet von den gespoilerten Oberflächen, übersehen wir das, was dahinter aufscheinen will.

Für mich ist dieser literarische Fund zum Gleichnis für unseren Glauben geworden. Ist er nicht auch allzuoft gehalten von der trügerischen Gewissheit des Offensichtlichen? Sind unsere Sinne so stark konditioniert, dass sie die Geheimnisse des Hintergrundes und die diskrete Anwesenheit Gottes in unserer Welt nicht mehr wahrnehmen? Haben wir noch einen Sinn für Gottes Wirklichkeit hinter unserer Weltwirklichkeit?

Sylvain Tesson beschreibt dieses Phänomen in nichtreligiöser Sprache. Dazu folgende Kostprobe:
Die Lauer verlangt es, seine Seele in Atem zu halten. Diese Übung hatte mir ein Geheimnis erschlossen: Es lohnt sich immer, die eigene Empfangsfrequenz besser einzustellen. Noch nie war ich so geschärften sensorischen Schwingungen ausgesetzt gewesen wie in jenen tibetischen Wochen. Wieder zu Hause, würde ich auch weiterhin eingehend die Welt betrachten und ihre Schattenseiten ausleuchten. Auch wenn nicht mit einem Leoparden zu rechnen wäre. Die Lauer ist eine Maxime. Das Leben verstreicht nicht einfach so. Man kann unter der Linde vor seinem Haus auf der Lauer liegen, unter den Wolken am Himmel und sogar am Tisch seiner Freunde. In dieser Welt gibt es mehr Erscheinungen, als man denkt.“ (S. 184)

In diesem Sinne des „Auf-der-Lauer-seins“ könnte man den Versuch unternehmen, eine Ethik des Wartens durchzubuchstabieren. Sich zu gestatten, Zeit zu nehmen, um auf den Dingen zu verweilen, den Blick ruhen zu lassen, sich, die anderen, die Welt und Gott anders zu sehen.
Warum sollte sich die Welt nicht durch dieses Anderssehen als sehr gute Schöpfung offenbaren, die trotz allen Übels und trotz aller Unzulänglichkeiten und Rätselhaftigkeiten bestaunt und geliebt werden kann? Die Schöpfungspsalmen des AT machen es uns vor. „HERR, wie sind deine Werke so groß und so viel! Du hast sie alle weise geordnet, und die Erde ist voll deiner Güter.“ (Psalm 104, 24)

Sabine Naegeli Gedicht steht dazu in Korrespondenz:

Sturmwind des Geistes
zerbrich die selbstgemachten Häuser,
die uns doch nicht bergen können.
Führ uns hinaus aus unseren Kerkern,
beheimate uns ins ewige Haus!

Sturmwind des Geistes,
birg zum Erlöschen die künstlichen
Lichter, die uns erblinden ließen für das
wahre Licht. Gib uns den klaren Blick!

Sturmwind des Geistes, überflute die
Dämme, mit denen wir uns abgesichert
haben gegen den Einbruch des Himmels.
Und befreie uns aus unseren Wüsten!

Amen

Pfarrer Carsten Schleef