Ein Gebet Karl Barths

Liebe Gemeinde!

Der bedeutendste Theologe des 20. Jahrhunderts und darüber hinaus war Karl Barth (1886-1968). Er war Professor für Systematische Theologie und der theologische Kopf der Bekennenden Kirche im Widerstand gegen die Deutschen Christen. Seine Berühmtheit und sein Ansehen reichten über die Grenzen der evangelischen Kirche und Theologie weit hinaus.
Fast noch mehr als die Person Karl Barths oder das gewaltige Werk, das er hinterlassen hat, beeindruckt mich seit meines Theologiestudiums folgende scheinbare Kleinigkeit:
Karl Barth, dieser berühmte und hochgeehrte Mann und große Theologie, ging an Heilig Abend, an Ostern oder anderen hohen Feiertagen nicht in eine große Haupt- oder Universitätskirche, sondern in das Basler Gefängnis, um dort für die Gefangenen den Gottesdienst zu halten.
Ein Gebet, das er in einem Ostergottesdienst im Basler Gefängnis gesprochen hat, scheint mir auch in unserer Situation heute tröstend zu sein:

Herr, Gott unser Vater durch Jesus Christus deinen Sohn in der Macht deines Heiligen Geistes!
Ach gib doch unseren Augen Licht, damit wir dein Licht, das hell leuchtende Licht der Versöhnung sehen mögen! Denn das ist die größte Plage, wenn bei Tage man das Licht nicht sehen kann. Befreie uns doch von dieser Plage: uns und alle die Christen, die heute recht oder schlecht Ostern feiern – das ganze noch immer und immer wieder neu so verwirrte und gefährdete Menschenvolk in der Nähe und in der Ferne!
Segne, was in unserer Kirche, aber auch in den anderen, jetzt noch von uns getrennten Kirchen und Gemeinschaften geschieht zur Bezeugung deines Namens, deines Reiches, deines Willens! Regiere aber auch alle redlichen Bemühungen der staatlichen Obrigkeiten, Verwaltungen und Gerichte hier und in aller Welt! Stärke die Lehrer im Gedenken ihrer hohen Aufgaben gegenüber der heranwachsenden Generation – die Leute, die die Zeitungen schreiben im Bewußtsein ihrer schweren Verantwortlichkeit für die von ihnen beeinflußte öffentliche Meinung – die Ärzte und Krankenschwestern in der treuen Aufmerksamkeit angesichts der Nöte der ihnen Anbefohlenen! Ersetze du mit deinem Trost, deinem Rat, deiner Hilfe, was wir Alle so vielen Einsamen, Armen, Kranken, Verirrten schuldig bleiben! Und so laß dein Erbarmen auch an Allen, die in diesem Hause sind, und an ihren Angehörigen offenbar und mächtig werden!
Wir legen uns und Alles, was uns fehlt und was die Welt nötig hat, in deine Hand. Wir hoffen auf dich. Wir vertrauen dir. Du hast dein Volk noch nie zuschanden werden lassen, wenn es dich ernstlich anrief. Was du angefangen hast, das wirst du auch vollenden.
Amen.“
(aus: Karl Barth, Fünfzig Gebete, TVZ-Verlag: Zürich 72005, S. 32f.)

Herzlich grüße ich Sie,
Ihr Pfarrer Gregor Wiebe