Ich habe keine anderen Hände als eure

In der Stadt Münster, in der Kirche Sankt Ludgeri ist ein besonderes Kruzifix zu sehen. Das Kruzifix ist aus Holz und wurde von einem Künstler 1929 angefertigt. Beim Bombenangriff im Jahre 1944 wurde die Kirche getroffen und der Holzfigur wurden beide Arme abgerissen. Beim Wiederaufbau der Kirche nach dem Krieg entschied man sich diese Jesusfigur nicht zu renovieren sondern anstelle der ausgebreiteten Armen am Kreuz den Satz einzugravieren „Ich habe keine anderen Hände als eure“.

Dieses Kruzifix erinnert uns Christinnen und Christen daran, dass Gott uns braucht. Gott bezieht uns in sein Heilshandeln ein. Er handelt durch uns. Unser Handeln kann für andere eine Gottesbegegnung werden. Und so habe ich das auch oft in meinem Leben erlebt.

Da ist die Nonne Stella Maris aus Indien im Jahr 1976. Mit 9 hatte ich in der Gegend von Freiburg einen Unfall und ein Splitter steckte tief in meinem Knie. Ich wurde operiert und wachte allein auf (damals mussten auch die Eltern das Hospital nach der Besuchszeit verlassen). Ich hatte Angst und starke Schmerzen. Stella Maris war da. Sie blieb auch nachts, sah nach mir, beruhigte mich. Und mitten in der Nacht öffnete sie oft meinen Gipsverband am Bein und bewegte mein Knie. Sie tat das sehr vorsichtig. Mein Zustand verschlechterte sich. Ich bekam hohes Fieber, konnte nicht mehr verlegt werden. Stella Maris war Tag und Nacht für mich da. Langsam ging es mir besser. Eines Tages bekam ich mit, dass Stella Maris furchtbar von einem Arzt angegangen wurde, weil sie den Verband öffnete und mein Knie bewegte. Sie durfte nun nachts nicht mehr zu mir. Später im Krankenhaus in Bonn erklärte ein Unfallchirurg meinen Eltern, dass Stella Maris mir das Bein gerettet hatte. Wäre mein Bein nicht bewegt worden, wäre es steif geblieben. Aber sie hat auch meiner Seele gut getan, sie war da als ich schreckliche Angst hatte und allein war.

Am ersten Juni 2015 erhielt ich die Nachricht, dass meine Eltern bei einem Autounfall getötet wurden und mein Bruder im kritischen Zustand auf der Intensivstation in Euskirchen liegt. Nina, die Schauspielerin und David, der Fahrradmechaniker waren eine Stunde später da. Eigentlich waren sie zu diesem Zeitpunkt gerade getrennt. Aber das war jetzt egal. Einer von den beiden kam jeden Tag vorbei: Einkaufen gehen, mich nach Euskirchen fahren, die blutige Handtasche meiner Mutter von der Polizei abholen. Ich weiß nicht, wie ich diese Zeit ohne die beiden überstanden hätte. Heute sind sie übrigens verheiratet und haben eine wunderbare Tochter.

1995 war ich im Predigerseminar. Besuche im Krankenhaus. Seelsorge lernen. Ich wurde einer Rheumaklinik zugeteilt und besuchte dort eine ältere Dame. Als Russlanddeutsche hatte sie in ihrem Leben viel Grausames erleben müssen. Vertreibung und der Tod von geliebten Angehören, Verfolgung wegen ihres Glaubens. Dann die Ausreise nach Deutschland. Und kaum hier, die Diagnose Rheuma: unendliche Schmerzen, keine Chance auf Heilung. Jeden Tag ging ich zu ihr und bei jedem Mal kam ich mir noch unfähiger vor als am Tag zuvor. Wie sollte ich die Frau trösten, wie seelsorgen, ich, der so behütet aufgewachsen war? Am Schluss schob ich sei einfach jeden Tag im Rollstuhl durch den Garten und dachte aus mir wird höchstens ein Krankenpfleger, jedenfalls kein Seelsorger. Der letzte Tag kam, die alte Dame erwartete mich schon. Sie saß aufrecht im Bett, sprach mir den aaronitischen Segen zu und sagte mir: „Ich bin mir sicher, dass Sie für viele Menschen ein guter Seelsorger werden“.

Ich weiß nicht, ob Stella Maris sich noch an den kleinen verängstigten 9-Jährigen erinnern kann. Nina und David betonen bis heute, dass ihr Handeln doch nix Besonderes war, für Freunde normal. Und ich habe keinen Schimmer, was aus der alten rheumakranken Frau geworden ist.

Aber wenn ich das Kruzifiix aus Münster betrachte, dann weiß ich genau, dass Jesus Hände ganz dunkelbraun sind. Dass seine Fingergelenke geschwollen und entzündet sind. Und manchmal nach Fahrradkette riechen.

Und dann hoffe ich, dass es Menschen gibt, die überzeugt sind, dass Jesus einen silbernen Ehering trägt. Mit  einer Goldlinie – die aus dem Ehering einer 2015 bei einem Autounfall verstorbenen Frau. So wie ich einen trage.

Und wenn Sie und Ihr euch einmal fragen solltet „Was kann ich als Christ oder Christin schon groß ausrichten?“, dann schaut euch eure Hände an und erkennt: „Gott nutzt mich als sein Werkzeug.“ Und es gibt bestimmt Menschen, für die eurer Wort, eure Tat, eure Geste, eure Umarmung, euer Zuhören ein Wirken Gottes war.

Beste Segenswünsche 
Albi Roebke