„daß zu Herzen gehen muß, was irgend von Herzen kommt“

Auch heute leihe ich mir für das geistliche Worte noch einmal Worte eines anderen. Als ich mich das erste Mal nach der Evangelischen Kirchengemeinde Seelscheid erkundigte, fiel mir natürlich die Adresse auf: Pfarrer-Julius-Smend-Platz.
Pfarrer Carsten Schleef erzählte mir dann bei unserem ersten Treffen von der Wirkungszeit von Julius Smend in Seelscheid. Auch andere Gemeindeglieder haben mir inzwischen etwas davon berichtet, z.B. von der Gründung des Kirchenchores durch Julius Smend.
Julius Smend – das ist ein Name, den man nicht nur als Seelscheider, sondern auch als Theologe kennt. Nach seiner Zeit als Pfarrer in Seelscheid wurde er zum ordentlichen Professor berufen und war seit 1893 Professor für Praktische Theologie an der Universität Straßburg. Während seiner Zeit in Seelscheid gründete er 1889 zusammen mit Arnold Mendelssohn und Friedrich Spitta den Rheinischen Kirchengesangverein (heute: Chorverband der Ev. Kirche im Rheinland e.V.).

Am 2. Juni 1907 – also auf den Tag genau vor 113 Jahren – kehrte Smend zurück an seine alte, geliebte Wirkungsstätte. In Seelscheid fand der Festgottesdienst zur Jahresversammlung des Vereins statt. Smend predigte an diesem Tag über Jeremia 16,16:
„Siehe, ich will viele Fischer aussenden, spricht der Herr, die sollen sie fischen; und danach will ich viele Jäger aussenden, die sollen sie fangen auf allen Bergen und auf allen Hügeln und in den Felsklüften.“

Ich habe beim Lesen der Predigt an das schöne Seelscheid, das ich am vergangenen Pfingstsonntag zusammen mit meiner Frau auf einer „Tippeltour“ umwandert habe, und vor allem an unsere Chöre gedacht, die zur Zeit ja nicht wirklich – oder nur bedingt – proben und erst recht nicht auftreten können. Vielleicht tun die Worte von Julius Smend den Chorsängerinnen und -sängern und allen Musikfreunden dieser „singenden Berggemeinde“ ja gut:

„Liebe Gemeinde! Werte Festgenossen!
Viele von euch haben dies merkwürdige Wort des Propheten Jeremia wahrscheinlich bis zu dieser Stunde nie gehört. Auch mir war es unbekannt. […] Ich aber dachte bei mir: das ist der Text für die Feier in Seelscheid! Wie schön und fein paßt es doch auf unsern Kirchengesang und auf unsre Kirchengesangvereine, dies Bild von den Fischern und Jägern. Und dann: Bachs Musik hatte uns zu diesem Worte geführt, ja uns mit diesem Schriftwort erst bekannt gemacht, das uns sonst vielleicht nie begegnet sein würde [gemeint ist eine Kantate von Johann Sebastian Bach über Jeremia 16,16 = BWV 88]. Das aber ist Zweck und Aufgabe unserer Kirchenchöre, unser Volk zurückzuführen zu Gottes Wort, in Gottes Haus, an Gottes Herz!
Unsre Arbeit, die Arbeit der Kirchengesangvereine, eine Arbeit für Gott und Gottes Reich: das ist ihr Sinn, und daran hanget ihr Segen.

Zwei prächtige Bilder entfaltet vor uns der Prophet. Zuerst sehen wir das Meer, das unermeßliche. […] Und danach werden wir in eine Berglandschaft versetzt mit Fels und Wald. […] Wir aber fragen nicht lange, was das bedeute. […] Unser Rheinland ist solch ein Wasser und Feld Gottes seit dem grauen christlichen Altertum, dies Land mit seinen Strömen, seinen Bergen und Hügeln und Felsklüften. Und die evangelischen Gemeinden in ihm, sie sind es auf besondere Art, als die Stätten, an denen das Evangelium von Gottes Herrlichkeit und Gnade lauter und rein erschallt. Unser liebes Seelscheid war und ist es. Auch hier haben viel Fischer und Jäger ihr Wesen getrieben in viertehalb Jahrhunderten. Ich denke nicht nur an die neueste Zeit; ich nenne bloß den alten Pastor Schulz und den alten Lehrer Fasbender. Ich meine aber alle, die es treu mit ihrem Gott gemeint und ihn hier oder dort auf dem Berge, in der alten gemeinsamen Kirche, gesucht und angebetet haben. Denn wo irgend im Stillen oder öffentlich für Gott gewirkt und geworben wird, da sind fürwahr unseres Gottes Fischer und Jäger.
Heute aber wollen wir uns daran erinnern lassen, daß zu diesen Dienern und Helfern Gottes auch die Musikanten gehören, die Sänger und die Spielleute, die Prediger in Tönen. […] Haben sie uns nicht hundertmal ergriffen und erschüttert, uns zu Tränen gerührt, uns die Nähe Gottes spürbar gemacht, – vielleicht um vieles stärker und inniger als das Wort, das von dieser Kanzel erscholl? […] Sind nicht die 9000 Kirchenmelodien, die der Protestantismus hervorgebracht oder in seinen Dienst genommen hat, 9000 starke Angelhaken, 9000 befiederte Pfeile in der Hand Gottes und seiner Knechte geworden? […]
Auch gerade hier am Ort hat auf der Pflege des heiligen Gesanges seit Jahren reicher Segen geruht. Euer gottesdienstliches Leben ist dadurch frischer, froher und feierlicher geworden, euer häusliches Leben ernster, euer Innenleben reicher und fruchtbarer. Wäre jemand hier zugegen, der da sagen möchte, das sei alles nur äußerlich, dem würden wir antworten, er sei ein durch und durch ungläubiger Mensch. […]
Es ist ein altes Sprichwort, nein, vielmehr ein göttliches Gesetz, daß zu Herzen gehen muß, was irgend von Herzen kommt. Ist das nicht allezeit der Frommen Zuversicht gewesen? Nun wohl, es gibt Menschen, die für Töne nicht empfänglich sind, und die kein Lied zu rühren vermag. Unser Luther hat solche sehr hart beurteilt. Das tun wir nicht […] Wenn nun manche Seele durch kein noch so gut gemeintes Wort bewegt, ja selbst durch keine herhafte Tat erreicht und erweicht wird, was wunder, wenn auch unser Singen und Klingen eine verschlossene Tür findet! Aber wo Menschenherzen uns versperrt bleiben, da steht Gottes Herz noch offen.“
[aus: Julius Smend, Evangelische Predigten samt den zugehörigen Gottesdienstordnungen, 1910, S. 233-241]

Liebe Gemeinde, das wünsche ich Ihnen: offene Herzen – und, wenn unsere Herzen einmal verschlossen bleiben, dass Sie Trost und Zuversicht darin finden, dass Gottes Herz stets offen bleibt!

Ihr Pfarrer Gregor Wiebe

P.S.: Wer Interesse hat, einmal die ganze Predigt nachzulesen, der kann sie hier herunterladen.

Foto: Dorfkirche Seelscheid von 1914