In welchem Geist treten wir die Fahrt ins Ungewisse an?

Liebe Gemeinde!

Heute jährt sich zum 75. Mal die bedingungslose Kapitulation der deutschen Wehrmacht und damit das Ende des Zweiten Weltkrieges. Der 8. Mai wurde von dem 6. Deutschen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker in einer viel beachteten Rede als „Tag der Befreiung“ bezeichnet und heute in Berlin sogar mit einem einmaligen gesetzlichen Feiertag als Gedenktag begangen.

Dieses Datum will ich heute auch mit meinem geistlichen Wort thematisieren, und zwar mit einer Predigt des Theologen Gerhard Ebeling (1912-2001; Schüler von Rudolf Bultmann und Dietrich Bonhoeffer), der während des Dritten Reichs als Pfarrer der Bekennenden Kirche im Widerstand gegen die Nationalsozialisten gepredigt hat. Am 21. Mai 1945 (Pfingstmontag) – also unmittelbar nach dieser „Befreiung“ – hielt Ebeling eine Predigt über 1. Timotheus 1,7:
„Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft und der Liebe und der Zucht.“ (Übersetzung der Lutherbibel von 1912)

Ich hoffe, Sie sehen es mir nach, dass das heutige geistliche Wort deshalb etwas länger ausfällt als gewohnt, und noch mehr hoffe ich natürlich, dass es Ihnen beim Lesen dieser Predigt so geht wie mir: Sie liest sich wie ein beeindruckendes Zeugnis zum Gedenken des 8. Mai 1945, aber gleichzeitig auch als eine Rede in unsere, von der Corona-Krise geprägte Gegenwart und als eine Weisung für die Zukunft.
Allein schon die Frage, die Gerhard Ebeling seine Predigt betitelte, scheint mir auch uns heute in anderer Form nachdenklich stimmen zu können: „In welchem Geist treten wir die Fahrt ins Ungewisse an?“

„Es ist heute Pfingsten, eines der drei großen christlichen Feste. Für die meisten von uns wird das nicht mehr bedeuten als eine wehmütige Erinnerung an frühere glücklichere Jahre, in denen wir die Feste in der Familie und in persönlicher Freiheit weniger von Sorgen belastet verbringen konnten. Doch ist es vielleicht an der Zeit, sich einmal wieder ins Gedächtnis zu rufen, daß die Feste, die wir zu feiern gewohnt sind, und überhaupt die Grundordnungen, in denen wir lebten, von einem christlichen Erbe zehren. Und darum ist es wohl an der Zeit, jetzt, wo diese Grundordnungen unseres Lebens im tiefsten erschüttert sind und die uns lieb gewordene Art, unsere Feste zu feiern, uns genommen ist, danach zu fragen, warum das so gekommen ist und ob nicht eine Rückbesinnung auf die Quellen des geistigen Lebens unseres Volkes, und damit eben auf das Christentum, dringend notwendig und heilsam ist. […]
Jedoch mehr als die Tatsache, daß heute Pfingsten ist, gibt uns wohl allen die drangvolle Lage, in der wir uns befinden, Anlaß und Bereitschaft, uns aus dem alltäglichen Getriebe und Gerede heraus einmal zur Sammlung und Besinnung zusammenzufinden. […] Ungewißheit ist das Furchtbarste in unserer Lage. […] Ich meine, diese qualvolle Situation sollte uns weiterbringen als nur zu einem gierigen Erhaschen und Weitertragen von Gerüchten, einem ewigen Spekulieren über das, was wahrscheinlich und unwahrscheinlich ist. […]
Aber darüber dürfen wir einen dritten Anlaß, zu diesem Gottesdienst zusammenzukommen, nicht vergessen: das Danken. […] Gewiß mischt sich in diesen Dank das bittere ‚Warum?‘ im Blick auf all die Opfer und Leiden, – eine Frage, auf die allerdings nicht so schnell eine Antwort gegeben werden kann. Aber von diesem grübelnden ‚Warum?‘ darf doch nicht erstickt werden der Dank für das, was wir so selbstverständlich ohne ‚Warum?‘ zu fragen, hinnehmen: dafür, daß wir, zuweilen sehr wunderbar, durch alle Gefahren hindurch gerettet wurden und daß wir bisher auch, was zum Leben notwendig ist, oft viel reichlicher als erwartet erhielten. […]
Diesem dreifachen Anlaß […] wollen wir dadurch gerecht werden, daß wir unsere Gedanken leiten lassen von dem Paulus-Wort, das ich verlas: ‚Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft und der Liebe und der Zucht.‘ Dieses Wort redet Menschen an, die sich am Beginn eines ganz neuen, noch völlig dunklen Wegs befinden, der sie zu schweren Aufgaben und Leiden, aber auch und trotz allem zu großen Möglichkeiten führt. Und darum scheint es mir ein Wort gerade für uns zu sein. […]
Und nun ist meines Erachtens nicht das Entscheidende, was uns erwartet, ob die Pessimisten oder ob die Optimisten recht behalten, sondern in welchem Geist wir die Fahrt ins Dunkle, Ungewisse, Neue, das vor uns liegt, antreten. […]
Wir sind in dem Kämpfen, Leiden und Schaffen, das uns bevorsteht, nicht auf die Kraft angewiesen, die wir selber aufzubringen imstande sind oder die wir aus dem Untertauchen in irgendwelche Gemeinschaften und Weltanschauungen empfangen. Wir haben ja einen Anschauungsunterricht durchgemacht, wie begrenzt unsere eigene Kraft ist und wie begrenzt selbst die Kräfte großer Persönlichkeiten und mitreißender Massenbegeisterung sind. Mit unserer eigenen Kraft oder irgendeiner neuen Parole, für die wir uns begeistern könnten, ist es jetzt kaum getan. Wir haben uns vielmehr mit der Frage auseinanderzusetzen, ob wir Gott anerkennen und unsern Herrn sein lassen und uns seinem Geist öffnen […]

Was ist das für ein Geist?
Es ist nicht ein Geist der Furcht. Es ist gewiß nicht der Geist eines harmlos optimistischen Gottvertrauens. Aber es ist der Geist eines nüchternen Erkennens der Lage, wie sie ist, ohne Beschönigung, aber auch ohne Pessimismus, aber zugleich der Geist einer gehorsamen Beugung und eines vertrauenden Stillehaltens unter Gottes Willen. […]
Denn der Geist, den Gott gibt, ist ein Geist der Kraft. Es ist zwar eine paradoxe Kraft. Man sieht dem, der sich unter den Geist Gottes stellt, von außen diese Kraft oft gar nicht an. Träger dieser Kraft könnten wohl körperlich Schwache und Gerbrechliche oder seelisch hart Bedrängte sein. […]
Und wozu macht diese Kraft fähig? Sie macht fähig zum Ausharren, zur Geduld, zum Tragen, zum Leiden. Aber nicht nur das. Sie macht fähig, über die Enge des Augenblicks hinauszuwachsen und den Willen Gottes nicht nur zu leiden, sondern zu tun, sich nicht willenlos von den Wellen treiben zu lassen, sondern im Blick auf Gott und seinen Willen ein hohes Ziel ins Auge zu fassen und darauf loszusteuern in sieghaftem Trotz gegen die Mächte der Finsternis, der Zerstörung und der Verzweiflung. […]
Denn es ist ein Geist der Liebe. Die Kraft, die Gott gibt, ist nicht die rücksichtslose Kraft, die die Fäuste gebraucht zur Durchsetzung des eigenen Ichs. Die Kraft, für den anderen dazusein, ist größer als die Kraft, nur für sich selber dazusein. […]
Und dann noch eins: Der Geist Gottes ist ein Geist der Zucht. Dieses Wort will uns nicht gefallen, die wir uns nach Freiheit sehnen. Es ist wahrhaftig begreiflich, daß wir von allem Zwang, den Menschen auf uns ausüben, freizukommen suchen. […] Gebe Gott, daß wir uns einer solchen Freiheit freuen können bald auch als irdisch gesehen einigermaßen freie Menschen. Aber selbst als Zwangsarbeiter oder als Gefangene hinter Stachelraht könnten wir der großen inneren Freiheit nicht beraubt werden, die denen gegeben ist, die sich dem Geiste Gottes öffnen.“

[aus: Gerhard Ebeling, In welchem Geist treten wir die Fahrt ins Ungewisse an? Predigt vor der Truppe in Nordschleswig am 21. Mai 1945 (Pfingstmontag), in: derselbe, Predigten eines ‚Illegalen‘ aus den Jahren 1939-1945, 1995, S. 155-161]

Herzlich grüße ich Sie,
Ihr Pfarrer Gregor Wiebe