Ganz Kirche sein

Sind Sie bereit für ein kleines Gedankenexperiment? Angenommen ich frage Sie: Was ist für Sie Kirche? Wo erleben Sie konkret Kirche?
Ich vermute, die meisten antworten spontan etwa so: Naja, vor Ort. Da, wo der Kirchturm steht, wo ich die Glocken höre; da, wo ich aus dem Gemeindeblatt etwas vom kirchlichen Leben erfahre; da, wo mir die Pfarrerin, der Pfarrer begegnet.
Kurzum in der Kirchengemeinde, wo ich selbst wohne, das ist für mich Kirche. Da erlebe ich Kirche.
Diese Hochschätzung der lokalen Kirchengemeinde gehört sicher zum Markenkern gegenwärtiger Kirchlichkeit, zumal evangelischer Prägung. Für Katholiken ist diese Identifikation mit der örtlichen Pfarrgemeinde zwar auch gegeben, aber weniger dominant. Denn sie wissen noch um eine weitere Dimension ihres Kirchenbewusstseins. Dass sie nämlich Teil einer weltumspannenden Gemeinschaft sind, Teil der einen großen Weltkirche.
Ich denke, beides gehört zusammen. Auf der einen Seite die Beheimatung und die Verankerung in der Gemeinde vor Ort und zugleich das Bewusstsein, Teil einer weltumspannenden Gemeinschaft von Christinnen und Christen zu sein. Um es auf den Punkt zu bringen: Als Kirchengemeinde sind wir zwar ganz Kirche, aber wir sind nicht die ganze Kirche! Evangelisch bin ich nur insofern als ich zugleich auch ökumenisch bin. Nur in diesem Zugleich werde ich ganz Kirche sein können.
Diese Sicht bewahrt vor geistlichem Hochmut und kurzsichtigem Kirchturmdenken. Ich bin davon überzeugt, dass wir mehr denn je die Begegnung und das Gespräch mit anderen christlichen Gemeinschaften und Kirchen brauchen. Denn nur so lassen sich die riesigen Probleme der Zukunft lösen.
Im wechselseitigen Austausch, durch gegenseitige Besuche und Begegnungen erkennen wir dankbar die Buntheit christlicher Frömmigkeit und Traditionen, die sich aus dem einen Glauben an Jesus Christus, dem menschgewordenen Gott, entwickelt haben. Diese Vielfalt als Ausdruck des lebendigen Geistes Gottes zu begreifen und zu erleben, ist wohl die schönste Frucht der ökumenischen Bewegung.
Es geschah auf dem Hintergrund des furchtbaren Weltbrandes, dass sich nach dem Zweiten Weltkrieg der Ökumenische Rat der Kirchen als Zusammenschluss von 352 Mitgliedskirchen (Stand: 2022) in mehr als 120 Ländern auf allen Kontinenten der Erde gegründet hat. Diese vertreten 580 Millionen Christinnen und Christen. „Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein.“ Mit dieser Formulierung erweckte die erste Vollversammlung 1948 in Amsterdam weltweites Aufsehen.
Zum ersten Mal wird sich die Vollversammlung in diesem Jahr in Deutschland in Karlsruhe treffen. Es wird spannend sein, wie sich die Delegierten aus aller Welt den Fragen von Krieg und Frieden unter dem Eindruck des Ukrainekonfliktes stellen werden. Neue Herausforderungen brauchen neue Antworten, die nur im gemeinsamen Hören auf das Zeugnis der Heiligen Schrift und der Bereitschaft, sich dem Wirken des Geistes Gottes auszusetzen, gegeben werden können.
Pfarrer Carsten Schleef