Predigt über 2. Korinther 5, 14–21 (in Auswahl) von Pfarrer Gregor Wiebe zu KARFREITAG

Liebe Gemeinde,
der Predigttext für Karfreitag steht in diesem Kirchenjahr im 2. Korintherbrief des Apostels Paulus im 5. Kapitel in den Versen 14 bis 21; sie sind hier in Auswahl zu lesen:

14 Denn die Liebe Christi drängt uns, da wir erkannt haben, dass einer für alle gestorben ist und so alle gestorben sind. … 17 Darum: Ist jemand in Christus, so ist er eine neue Kreatur; das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist geworden.
18 Aber das alles ist von Gott, der uns mit sich selber versöhnt hat durch Christus und uns das Amt gegeben, das die Versöhnung predigt. 19 Denn Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit ihm selber und rechnete ihnen ihre Sünden nicht zu und hat unter uns aufgerichtet das Wort von der Versöhnung.
20 So sind wir nun Botschafter an Christi statt, denn Gott ermahnt durch uns; so bitten wir nun an Christi statt: Lasst euch versöhnen mit Gott!“

Karfreitag – zweierlei Arten zu leben und zu sterben

Liebe Gemeinde,
worum geht es an Karfreitag? Um den Tod Jesu am Kreuz, darum, „dass einer für alle gestorben ist“. Aber was heißt dieses entscheidende „für alle“, also für uns? Warum folgert Paulus aus dem Tod Jesu, dass „so (wir) alle gestorben sind“. Inwiefern sollen wir „alle gestorben“ sein? Es geht hier – wie auch in der Verkündigung Jesu (vgl. z.B. Johannes 11, 25-26) – um zweierlei Arten zu leben und zu sterben. Wenn in unserem Predigttext zum ersten Mal vom Sterben („gestorben“) die Rede ist, so ist der gleiche Vorgang gemeint, den heute ein Arzt nach medizinischen Kriterien in der Sterbeurkunde festhält. Das zweite „gestorben“ – das sich auf uns, die wir leben(!), bezieht – hat mit einem Sterben nach medizinischen Kriterien offenbar gar nichts zu tun. Wir leben, und manchmal überkommt uns das bedrückende Gefühl: So richtig lebe ich gar nicht; mein Leben zieht an mir vorbei. Oder: So will ich eigentlich gar nicht leben. Es gibt ein anderes Kriterium für unser Leben als nur das medizinisch-biologische. Und hier sind wir bei der Frage, was das Kreuz von Golgatha, der Tod Jesu, „für alle“ – für uns – bedeuten soll.

Das Leben und Sterben im weltlichen Sinne
Alles, was wir tun, denken, hoffen und fühlen, tun wir auf den Tod hin. Kurz gesagt: Wir leben auf den Tod zu. Überspitzt gesagt: Wir liegen schon im Sterben, sobald wir geboren sind. Akribisch zählen wir die Tage, Geburtstage und Jahre. Und je näher wir auf den Tod zugehen, desto großartiger feiern wir unser Sterben am 70., 80. oder gar 90. Geburtstag.
Auch wenn wir es durch allerlei Kunstgriffe zu verdrängen suchen: Unser Leben wird zusehends weniger. Es muss nicht eine schwere Krankheit sein, die uns den Tod ins unmittelbare Bewusstsein rückt. Die Kinder sind längst aus dem Haus, der Ehepartner stirbt, wir werden Rentner, wir feiern silberne oder goldene Jubiläen. Der Tod nimmt immer konkreter von uns Besitz – das wird uns, Jungen wie Alten, auch gerade jetzt in den Zeiten der Corona-Krise bewusst.

Das Leben und Sterben im christlichen Sinne
Ganz anders charakterisiert das Neue Testament das Leben eines Menschen, der glaubt: Er lebt nicht auf den Tod, sondern auf seinen Gott zu. Er kommt aus dem Sterben ins Leben: „und so alle gestorben sind“. Seine Hoffnung und Zuversicht nehmen im Alter nicht ab, sondern zu. Das Neue Testament nennt uns also ein neues Kriterium für die Frage nach Leben und Sterben: 
Wer von Gott nichts wissen will, sein Leben auf sich selbst gründen will und den Sinn seines Lebens verzweifelt im unwillkürlichen oder willkürlichen Lauf dieser Welt finden will, stirbt, auch wenn er im weltlichen Sinne noch lebt. 
Das, so der Apostel Paulus, gilt für den Christusgläubigen nicht: „Ist jemand in Christus, so ist er eine neue Kreatur; das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist geworden.
Wer nach Gott fragt, ihm vertraut, „in Christus ist“, der lebt – und dieses Leben im christlichen Sinn kann vom Sterben im weltlich-medizinischen Sinn nicht beendet werden. 

Eine neue Kreatur
Eine neue Kreatur zu sein – das ist die Verheißung unseres Predigttextes. Ist das nicht im Grunde eine tiefe Sehnsucht in uns Menschen – neu zu sein, endlich einmal so sein zu können, wie wir auch sein wollen? Noch einmal neu anzufangen? Wann aber gelingt uns das? Oft mögen wir es uns vornehmen, noch einmal neu anzufangen, aber dauerhaft gelingen mag es uns selten oder nie. Wie also soll diese Verheißung an uns wirken? Wann ist Christus, das fleischgewordene Wort Gottes, in mir? Wir kennen diese Erfahrung im Grunde schon. Fragen wir uns einmal ganz grundlegend: Wann lebt ein Wort in mir?

  • Das kritische, aber ehrliche und gut gemeinte Wort eines Freundes kann mich treffen und meine Einstellung verändern, so dass ich einen neuen Blick auf mein Leben gewinne.
  • Der freundliche Kontakt zu Kollegen oder die Anerkennung durch den Vorgesetzten lässt uns unseren Beruf wieder gerne und mit Elan angehen. 

Solche Worte bewegen uns und vermögen es, unseren Sinn und unsere Haltung zu ändern; sie leben in uns. So, liebe Gemeinde, begegnet uns auch das Wort Gottes: Es eröffnet uns einen neuen Blick auf uns selbst! Sein Wort will in uns leben und uns verwandeln zu einer „neuen Kreatur“. Was aber zeichnet ein solches Leben aus? Was prägt mein Leben, wenn ich bereit bin, mir vom Wort Gottes – dem „Wort von der Versöhnung“, wie es in unserem Predigttext heißt – hier und heute etwas sagen zu lassen? Damit kommen wir zurück zu Karfreitag, liebe Gemeinde.

Das Wort von der Versöhnung
Gotthat unter uns aufgerichtet das Wort von der Versöhnung.“ Mit allem Nachdruck betont der Apostel Paulus im zweiten Abschnitt unseres Predigttextes einen entscheidenden Aspekt im Leben eines Christenmenschen: die Versöhnung. Damit es zu einer Versöhnung zwischen zwei Menschen kommt, bedarf es immer der Bereitschaft, den anderen neu zu sehen. Wer sich selbst als neue Kreatur erfährt, wer erfährt, wie ihm Gott mit Gnade und Barmherzigkeit begegnet, wie einen das mit einer neuen Kraft ausstattet, zu einer „neuen Kreatur“ werden lässt, weil alles bloß Weltliche, Sinnentleerte, Orientierungs- und Kraftlose „gestorben ist“, der wird auch seinen Nächsten nicht anders wahrnehmen wollen als eine von Gott angesehene und geliebte Kreatur. Sich selbst als von Gott gesehene „neue Kreatur“ zu erfahren, verändert auf heilsame Weise den Blick auf uns selbst – und den Blick auf unseren Nächsten. Und das ist die Voraussetzung für jede Versöhnung mit unseren Mitmenschen, nach der wir uns so oft sehnen und auf die wir selbst so oft angewiesen sind.

In diesen Tagen der Corona-Krise holen wir uns viele Worte der Information ein. Doch die Worte dieser Tage – seien es wichtige und richtige Worte, seien es belanglose oder gar falsche Worte – haben oft nur eine sehr kurze und begrenzte Gültigkeit. Und wir merken: Sicherheit und Orientierung geben uns die meisten Worte kaum. Wenn wir – aus berechtigten oder weniger berechtigten Gründen – Gott in unserem Leben keinen oder nur wenig Raum geben, prüfen wir doch einmal an diesen Ostertagen, ob uns dieses Wort Gottes, das uns der Apostel Paulus hier zuruft, ob dieses Wort Gottes – neben den vielen anderen Worten dieser Tage – nicht etwas viel Gewichtigeres und Heilsameres für unser Leben bereithält: 

Lasst euch versöhnen mit Gott.“
Amen.

Ihr Pfarrer
Gregor Wiebe