Predigt über 2. Mose 12, 1–14 (in Auswahl) von Pfarrer Albi Roebke zu GRÜNDONNERSTAG

1 Der Herr aber sprach zu Mose und Aaron in Ägyptenland: 2 Dieser Monat soll bei euch der erste Monat sein, und von ihm an sollt ihr die Monate des Jahres zählen. 3 Am zehnten Tage dieses Monats nehme jeder Hausvater ein Lamm, je ein Lamm für ein Haus. 4 Wenn aber in einem Hause für ein Lamm zu wenige sind, so nehme er‘s mit seinem Nachbarn, …bis es so viele sind, dass sie das Lamm aufessen können… 7 Und sie sollen von seinem Blut nehmen und beide Pfosten an der Tür und den Türsturz damit bestreichen an den Häusern, in denen sie‘s essen. 11 So sollt ihr‘s aber essen: Um eure Lenden sollt ihr gegürtet sein und eure Schuhe an euren Füßen haben und den Stab in der Hand und sollt es in Eile essen; es ist des Herrn Passa. 12 Denn ich will in derselben Nacht durch Ägyptenland gehen und alle Erstgeburt schlagen in Ägyptenland unter Mensch und Vieh und will Strafgericht halten über alle Götter der Ägypter. Ich bin der Herr. 13 Dann aber soll das Blut euer Zeichen sein an den Häusern, in denen ihr seid: Wo ich das Blut sehe, will ich an euch vorübergehen, und die Plage soll euch nicht widerfahren, die das Verderben bringt, wenn ich Ägyptenland schlage. 14 Ihr sollt diesen Tag als Gedenktag haben und sollt ihn feiern als ein Fest für den Herrn, ihr und alle eure Nachkommen, als ewige Ordnung.

Liebe Gemeinde,
ist Ihnen schon mal aufgefallen, dass viele emotionale Zustände von Menschen in der deutschen Sprache mit Bildern des Essens beschrieben werden? Zum Beispiel die Henkers­mahlzeit, der Leichenschmaus. Es gibt Dinge, die uns auf den Magen schlagen. Wenn uns etwas nicht passt, schmeckt uns das nicht. Andererseits finden wir Menschen süß, im Rheinland sogar lecker. Und das Coronavirus finden viele sogar zum Kotzen.
Gefühle und Essen hängen nicht nur sprachlich nah beieinander. Das ist auch in der Bibel so.

Der heutige Predigttext beschreibt die Einsetzung des Pessachfestes. Kurz vor der Flucht in eine ungewisse Zukunft, aber aus der bedrückenden Sklaverei weist Gott die Menschen an, noch einmal gemeinschaftlich zu essen. Befreiung, Furcht, Glauben, Zweifel: All diese Gefühle lässt Gott in eine Mahlzeit münden. Bei nüchterner Betrachtung eine schräge Angelegenheit. Ich sitze auf gepackten Koffern, soll oder will fliehen, weiß nicht was kommen wird und frage Gott um Rat. Und er antwortet: „Iss erst mal was.“
Aber das Essen symbolisiert nicht nur die Gefühle und was geschehen wird, sondern das gemeinschaftliche Mahl IS(S)T Teil des Heilsgeschehens. Gegessen werden soll in Fluchtbekleidung. Das Blut der Schlachttiere wird zum lebensrettenden Geheimzeichen. Dieses Pessachfest vor 4.000 Jahren soll aber kein einmaliges Ereignis bleiben: die Juden sollen von diesem Tag an jedes Jahr genau so Pessach feiern. Seit 4.000 Jahren kommen jüdische Familien zu diesem Fest zusammen, essen gemeinsam und erleben die Geschichte von Gottes Befreiung im Wort und im Essen. Denn während des Essens fragt das jüngste Kind nach dem Sinn der Speisen. Und der Vater antwortet und erzählt zu den Speisen die Geschichte der Befreiung. Dieser Tag ist der Beginn des neuen jüdischen Jahres. Dem gemeinschaftlichen Mahl wohnt ein Anfang inne.
Und so feierte auch der Jude Jesus vor 2.000 Jahren mit seinen Jüngern das Pessachfest, am Gründonnerstag, für uns Christen die Einsetzung des Abendmahls. Wir Christen übernahmen von den Juden nicht nur die äußeren Zeichen des Abendmahls, wie unge­säuerte Brote (Oblaten), Wein und Lamm, sondern auch die inhaltlichen Strukturen. In diesem Abendmahl vor 2.000 Jahren geschah etwas. Es war keine Henkersmahlzeit, sondern es war das Erleben von Gottes Heilswirkung an den Menschen. Es war nicht der Anfang vom Ende, sondern der Anfang von etwas gänzlich Neuem. Formal ist der Gründonnerstag der Beginn der Osterzeit, mit diesem Mahl vor 2.000 Jahren beginnt für uns Christen die unumkehrbare Versöhnung durch Gottes Liebe. Ja, der Weg den Jesus geht, führt durch Leid, Verzweiflung und hin zu einem grausamen Tod. Aber mit diesem Tod endet die
Geschichte nicht – sondern beginnt erst. 
In diesem Tod werden wir Menschen mit Gott versöhnt. Durch diesen Tod wird sichtbar, dass niemand, kein einziger Mensch, aus der Liebe Gottes fallen kann.
Und deswegen feiern wir auch nach 2.000 Jahren noch Abendmahl – einmal als Erinnerung an das, was damals geschah; aber auch als ständigen Neuanfang: zwischen mir und Gott und zwischen mir und meinen Mitmenschen.
In unseren Tagen fehlt uns die Gemeinschaft, und auch das merken wir schmerzlich beim Thema Essen. Wir können mit Freunden nicht mehr ein Restaurant besuchen, gemeinsames Essen in der Großfamilie geht nicht mehr und auch das gemeinschaftliche Abendmahl fällt dieses Jahr aus.
Und jetzt? Zunächst einmal sollten wir uns den Hunger bewahren; die Sehnsucht nach Gemeinschaft, unter allen Menschen. Noch vor zwei Monaten sind wir oft pappsatt aus dem guten Restaurant gekommen und wollten uns dieses schöne Gefühl nicht von Bildern flüchtender Menschen an den europäischen Grenzen verderben lassen, die in europäischen Gemeinschaftsaktionen mit Tränengas, Gummiknüppeln und anscheinend auch mit scharfer Munition in ihr Elend zurück gedrängt wurden.
Nach dem fetten Weihnachtsessen wollten wir nicht an die verhungernden Menschen im Jemen oder im Südsudan denken. Und beim sonntäglichen Abendmahl haben wir uns selbst genügt und hatten nicht Sehnsucht nach den Menschen, die – aus welchen Gründen auch immer – nicht an der Gemeinschaft teilhatten.
Beim Essen geht es nicht nur ums Satt-Werden, sondern auch um die Gemeinschaft, darum dass diese Familienessen auch ein Neuanfang in unseren liebenden Beziehungen sind.

Lasst uns in einem Jahr beim Restaurantbesuch mit Freunden oder beim Kölsch „Im Gemütlichen Eck“ an den Hunger denken, den wir gespürt haben, als wir unsere Freunde und die, die uns wichtig sind, nicht treffen durften. Lasst uns aus diesem Hunger den immer wiederkehrenden Neuanfang feiern, dass Kontakt zu den Menschen, die wir brauchen, wichtig ist und gepflegt werden will. Und dann hoffe ich, dass es uns gelingt, gleichzeitig an die einsamen Menschen in den Altenheimen zu denken, die Trauernden in der Nachbarschaft, die Perspektivlosen in den Gefängnissen, die Leidenden in den Kliniken. Und uns überlegen, wie wir Teil eines Neuanfangs sein können, um diesen Menschen die Anbindung zu bieten, die ein Mensch zum Leben braucht. Denn das will Gott von uns. Und das sagt er uns zu.
Lasst uns uns freuen auf die Familienessen nach Corona, wenn wir alle wieder den Sonntagsbraten gemeinsam genießen. Und ich hoffe, dass wir dann an den Hunger denken, als wir merkten: Es ist nicht selbstverständlich, dass wir mit den Menschen, die wir lieben, zusammen sein dürfen. Und weiter hoffe ich, dass wir dann gleichzeitig an die Flüchtlinge überall in dieser Welt denken, die sich von ihren Familien trennen müssen oder getrennt werden, um Krieg, Hunger und Ungerechtigkeit zu entkommen. Und dass wir uns fragen, wie wir beitragen können zu einem neuen Anfang in dieser geschundenen Welt. Denn das will Gott von uns. Und das sagt er uns zu.
Lasst uns, wenn wir dann wieder gemeinsam das christliche Abendmahl feiern, hier in unserer Dorfkirche, neben der Freude an der Gemeinschaft den Hunger spüren nach den Menschen, die (noch) nicht da sind. Weil sie unsere kirchliche Sprache nicht verstehen, weil sie schlechte Erfahrungen mit Christinnen und Christen gemacht haben, weil sie Glauben bisher nur als Dogma oder hohle Fassade erlebt haben. Lasst uns dann überlegen, wie wir Teil eines Neuanfangs sein können. Dass die Botschaft der Gemeinschaft aller Menschen und das Erleben der Liebe Gottes auch hier in Seelscheid immer wieder neu beginnt. Für alle Menschen. Denn das will Gott von uns. Und das sagt er uns zu.

Das ist für mich die Botschaft des diesjährigen Gründonnerstag: Lasst uns den Hunger bewahren. Wir dürfen uns freuen auf das, was kommen wird: auf die Familienessen, auf das Bier mit Freunden in der Kneipe, auf die gemeinschaftliche Feier des Abendmahls in unserer Kirche. Aber lasst uns auch hoffen, dass diese Essen einen Neuanfang beinhalten – für uns, für alle Menschen, für diese Welt.

Denn das will Gott von uns. Und das sagt er uns zu. Amen.

Ihr/Euer Pfarrer Albi Roebke