Sophie Scholl

Gerade haben wir ihren 100. Geburtstag begangen. Und es scheint in unseren Tagen so zu sein, dass Sophie von allen Seiten vereinnahmt wird. Jana aus Kassel versucht Sophie für die Quer-Denker von heute zu vereinnahmen. Auf der linken Seite wird behauptet, Sophie wäre heute in der Antifa. Aber neben der Vereinnahmung gibt es gleichzeitig die Tendenz, sie zu einer Heiligen, einer Ikone zu machen. In Bayern ist eine Büste von ihr zu sehen, die sie als reines junges, unschuldiges Mädchen darstellt. Und auf manchen Fotos sieht sie aus wie ein Widerstands-Pin-up.

Aber all das wird der historischen Person Sophie Scholl wohl kaum gerecht. Sie war verstrickt in ihre Zeit. Auch sie ging am Anfang den Nazis auf den Leim, glaubte den Lügen der Propaganda vom Aufbruch einer neuen Generation. Begeistert und verantwortungsvoll führte sie eine Schar der BDM, dem Bund Deutscher Mädchen, und es wird berichtet, dass sie das voller Elan und mit großer Überzeugungskraft tat. Zusammen mit ihren gutbürgerlichen Eltern bezog sie in Ulm eine Wohnung, aus der vorher Juden vertrieben worden waren. Fragen nach dem Verbleib der Vorbesitzer stellt die Familie augenscheinlich nicht. Und auch in den Flugblättern der weißen Rose vermissen wir schmerzlich eindeutige Hinweise zur Verurteilung der Judenvernichtung im Osten.

Aber nicht nur politisch gab es in ihr Zerrissenheit und Widersprüche: ihre sexuelle Identität, ihr Frau-sein, beschäftigte sie quasi als frühe Vorbotin der Transgender-Debatte.

Nein, ganz bestimmt keine Heilige. Keine Reine und Unschuldige, aber eine beeindruckende junge Frau, die in all ihrer Widersprüchlichkeit, ihrer Verstricktheit, ihrer Begrenztheit und mit ihren offenen Fragen langsam eine feste Überzeugung ausbildet. Und diese wächst und reift und lässt sie konsequent ihren Weg gehen. Einen Weg, in den Widerstand gegen die NS-Diktatur. Gegen Unmenschlichkeit und gegen den Krieg. Widerstand im Rahmen ihrer Möglichkeiten. Widerstand mit Worten der Wahrheit auf Blättern. Für die Nazis war diese junge zerrissene Frau mit ihrem Mut und ihrer Wahrheit zu gefährlich. Man ließ sie zum Tode verurteilten und am selben Tag hinrichten.

Ich finde es anmaßend zu meinen, zu wissen, welche Position in der politischen Debatte sie heute vertreten würde. Aber eins ist ganz gewiss, das wissen wir aus ihrer Biografie und das wissen wir aus ihren erhaltenen Schriften: Dass all ihre Entwicklung, all ihre Fragen, Ängste und selbstkritisch festgehaltenen Unzulänglichkeiten gehalten und getragen wurden vom christlichen Glauben. Ihre Mutter war eine evangelische Diakonisse, ihr Vater und ihre Geschwister lebten im christlichen Glauben. Im Reichsarbeitsdienst las sie den Kirchenvater Austin, im Studium in München beschäftigte sie sich mit vielen Fragen der Theologie. Ihre Flugblätter sind getragen und geleitet von den Vorgaben der Heiligen Schrift und der Liebe zur Wahrheit.
Keine Heilige, aber eine gläubige Christin. Keine reine Unschuld, zerrissen, verstrickt, unsicher und auch manchmal unzulänglich – wie sie selbst (überselbstkritisch) einräumt. Aber der Wahrheit und der Heiligen Schrift verpflichtet.
Keine revolutionäre Heldin, die alles richtig analysiert hat, aber eine junge Frau, die bereit ist, für ihren Glauben sich selbst und das ganze System in Frage zu stellen. Und die bereit ist, dafür die Konsequenzen zu tragen.

Keine Ahnung, ob sie heute Querdenkerin wäre. Oder in der Antifa. Mag sein, mag auch nicht sein.
Aber ziemlich sicher wäre sie Mitglied der Evangelischen Kirche. Und auf jeden Fall eine gläubige Christin.

Pfarrer Albi Roebke