Christlicher Halbmond

Seit diesem Jahr sind meine Frau und ich stolze Großeltern. Emil wächst und gedeiht. Er beginnt die Welt um sich herum wahrzunehmen und zu begreifen. Die jungen Eltern sind voll eingespannt in der Fürsorge und Liebe gegenüber ihrem Nachwuchs. Bei einem unserer Besuche erzählte uns der Vater von einem schönen Abendritual. Liegt Emil in seinem Bettchen, singt Paul ihm vom Mond, der aufgegangen ist. Ich gestehe, das hat mich angerührt, erinnert es mich doch an vergangene Zeiten, in denen ich unserem Sohn dieses wunderbare Lied von Matthias Claudius wohl hundertfach an seinem Bett vorgesungen habe.
Dass dieses alte Lied die Herzen von so vielen Menschen bewegt, liegt auch an der Innigkeit und Präzision der Bilder mit denen Matthias Claudius die Natur am Abend beschreibt: „Der Wald steht schwarz und schweiget“, der über Wiesen aufsteigende weiße Nebel, die Stille der nächtlichen Welt, der ruhige Schlaf, der der Bitte für „den kranken Nachbarn“ nachfolgt. Zugleich verknüpft der Dichter diese romantische Naturbeschreibung in feiner Weise mit schlichten Wahrheiten menschlichen Lebens.

Seht ihr den Mond dort stehen?
Er ist nur halb zu sehen
und ist doch rund und schön.

So sind wohl manche Sachen,
die wir getrost belachen,
weil unsere Augen sie nicht sehn.“

(Evangelisches Gesangbuch Nr. 482)

Der nur halb zu sehende Mond wird hier zum Gleichnis für die Begrenztheit unserer Sinneswahrnehmung und unserer Vernunft. Der halbe Mond, der sich uns am nächtlichen Himmel zeigt, ist eben nur die halbe Wahrheit. Für Matthias Claudius wird dieses Phänomen zum Sinnbild dafür, dass es in unserer Welt beides gibt, das Sichtbare und das Unsichtbare.
Zurzeit erleben wir, wie sehr die Wissenschaft bemüht ist, Licht in das Dunkle der Pandemie zu bringen. Unsere Politiker lassen sich durch interdisziplinäre Teams von Wissenschaftler*innen beraten, damit ihre Entscheidungen zur Eindämmung und Bekämpfung des Virus nachvollziehbar und erfolgversprechend sind. Ja es stimmt, wir verdanken der Wissenschaft viel. Sie hat Licht in das Dunkle eines zunächst fremden und unbekannten Virus gebracht. Aber auch hier gilt, sie bleibt nicht frei von widerstreitenden Interessen, vorläufigen Erkenntnissen und Begrenzungen der eigenen Möglichkeiten. Die Wissenschaft lebt vom fortschreitenden Erkenntniszuwachs, dass die verborgene, verschlossene, unsichtbare Seite des Virus sichtbar, erklärbar, in ihren Folgen für das Leben aller abschätzbar und damit kontrollierbar wird.
Die Wirklichkeiten des Sichtbaren und Unsichtbaren sind das ureigene Feld jeder Religion. Der Glaube weiß um diese Unterscheidung und bekennt sich zu Gott als dem Schöpfer dieser ganzheitlichen Welt: „Wir glauben an den einen Gott, der alles geschaffen hat . . . die sichtbare und die unsichtbare Welt“ (Evangelisches Gesangbuch Nr. 854).
Christ*innen sind keine Himmelskomiker, wenn ihr Glaube an der Wahrheit festhält und daran erinnert, dass es Dinge in dieser rätselhaften und widersprüchlichen Welt gibt, die wir nur halb zu sehen vermögen. Gerade sie erwecken unseren Forschergeist, aber auch unseren Sinn für das Schöne und Staunenswerte. Sie inspirieren uns zur Ehrfurcht vor dem Geheimnis Gottes in unserer Welt.

Ich finde, das ist kein schlechter Tagesausklang, allabendlich einzukehren in das Gebet um Einfalt und rechte Frömmigkeit.

Ihr Pfarrer Carsten Schleef