Ein Gruß von Gott

Es hat länger gedauert, bis ich sie als notwendiges Übel akzeptiert habe. Aber ich gebe zu, Freunde fürs Leben werden wir beide nicht mehr. Dafür habe ich sie viel zu oft vergessen. Beim Einkaufen, beim Gang zur Behörde, beim Gottesdienst. Darum ist sie jetzt an möglichst vielen Stellen hinterlegt, damit ich sie nur ja nicht übersehe: als neues Hängedeko am Rückspiegel meines Autos, als zusätzliches Inlay meiner Jackentasche, als sichtbarer Hinweis in der Schublade meines Portemonnaies. Der geneigte Leser weiß, von wem ich rede. Ich meine meine Gesichtsmaske.

Mittlerweile hab ich sie in allen möglichen Varianten. Als Papier- oder mehrlagiges Fließprodukt, in der bunten Stoffausfertigung oder in der komfortablen Form eines Kunststoffvisiers.

Ich gebe zu, mein Verhältnis zu ihr bleibt trotz verschiedenartiger Wahlmöglichkeiten ambivalent. Der Rat der medizinischen Fachleute leuchtet mir ein und den Vorschriften der Politiker will ich mich nicht entziehen. Ich habe begriffen, es geht um unser aller Schutz vor einem heimtückischen Virus und da ist jeder und jede in seiner Verantwortung gefragt. Darum sind ich und die Maske mittlerweile eine Art Zwangsgemenschaft eingegangen. Aber, ehrlich gesagt, mögen tuen wir uns nicht.

Nicht nur, weil mir ständig die Brille beschlägt, sondern viel gravierender: Ich erkenne die Menschen nicht mehr. Zumindest diejenigen nicht, denen ich gerade begegne. Wer ist das bloß, der da vorne an der Kasse steht? Muss ich ihn oder sie kennen?

Mir war gar nicht bewusst, wie entscheidend die Nase-Mund-Kinn Region zur Identifkation meines Gegenübers eigentlich ist. Als Erkennungsmerkmal hätte ich der Augenpartie mehr zugetraut. Wenn ich nicht wegschaue oder das Weite suche, bleibt es dann oft bei einem kurzen Kopfnicken. Ein unausgesprochenes beiderseitiges Einvernehmen, dass es meinem Gegenüber ganz ähnlich ergeht. Irgendwie kennt man sich wohl.

Noch schwieriger finde ich es, die Gefühlslage des anderen zweifelsfrei zu bestimmen. Geht es ihm oder ihr gut? Ist sie fröhlich und steht ihr ein Lachen auf den Lippen? Oder fühlt sich mein Gegenüber schlecht gelaunt? Ist er traurig und legen sich Sorgenfalten in sein Gesicht? Freut er sich, mich zu sehen oder ringt sie genauso wie ich um das Erkennen? Ich weiß es nicht, weil ich es nicht sehen kann. Gefühle bleiben hinter der Maske verborgen.

Neulich starb der große Verpackungskünster Christo. Berühmt sind seine Kunstaktionen mit denen er Gebäude durch riesige Stoffbahnen verhüllte. Was er damit unter anderem erreichte, war eine neue Sicht auf die Dinge. Das allzu Gewohnte dem gewöhnlichen Blick entziehen, um neu, anders, aufmerksamer hinzuschauen. Unsere Wahrnehmung sensibilisieren, um neue Ansichten, neue Perspektiven wahrzunehmen.

Könnte nicht auch in diesem Sinne die lästige Gesichtsmaske uns Neues lehren? Noch genauer hinzuschauen, mehr Zeit für echte Begegnung investieren und sensibler Signale aufnehmen, die die andere Person aussendet. Es gibt so viele Möglichkeiten, um sich wieder oder neu bekanntzumachen. Seien wir kreativ: ein bewusster Augenaufschlag, ein freundliches Zwinkern, eine hochgehobene Hand zum Gruß, ein mutiges aufeinander Zugehen.

Etwas Positives hat die Maske neben ihrer Schutzfunktion dann doch. Meine Eindruck ist, dass die Menschen häufiger grüßen. Schön, wenn wir das beibehalten auch nach der Maskenpflicht.

Übrigens, wie wichtig der Gruß ist, wusste schon der Apostel Paulus. Auch wenn er seinen Gemeinden manchmal hart ins Gewissen reden musste, so vergaß er am Ende doch nicht das Grüßen. Vielleicht ergeht es uns sogar wie dem Beter des Psalm 45, der nach einer modernen Übersetzung behaupten kann:
„Ich sehe so gern dein Gesicht. Du bist für mich ein Gruß von Gott.“

Pfarrer Carsten Schleef