Alt hilft Jung

Am Morgen wartete eine Überraschung auf mich. Als ich die Eingangstür zum Pfarrhaus öffnete, um die Zeitung hereinzuholen, hing unerwarteterweise eine Papiertüte am Türknauf. Hatte da jemand etwas für uns hingehängt? Weihnachten war doch schon längst vorbei, Ostern lässt noch auf sich warten und niemand aus der Familie hat Geburtstag. Was mag sich hinter dieser Morgengabe verbergen? 

Eine innenliegende Karte schuf Klarheit über die Absenderin und Inhalt der Tüte: selbstgenähte Mundschutzmasken, hergestellt aus vorhandenen Textilbeständen der Familie, gefertigt mit geschickten Händen von einer 87-jährigen Urgroßmutter aus der Gemeinde. 

Die Freude war groß und führte mich ins Nachdenken. Sieh einer an, die sogenannten „Alten“, – sollten wir sie mal wieder unterschätzt haben! Offensichtlich lassen sie sich in diesen Corona-Zeiten eben nicht festlegen auf das so geläufige Verdikt einer „Risikogruppe“. Ist das eigentlich fair, einer ganzen Generation diesen Stempel aufzudrücken? 

Ich nehme an mir selber wahr, wie schnell ich solche Etiketten übernehme und dann dazu neige, Menschen einseitig aus dem Blickwinkel ihres Mangels, ihrer Bedürftigkeit, ihrer Hilflosigkeit und ihrer Angewiesenheit zu betrachten. 

Diese Morgengabe belehrt mich eines Besseren. Die „Alten“ als Risikogruppe zu subsumieren ist eine verkürzte Sicht. Sie wird ihnen nicht gerecht. Sind sie nicht viel mehr eine Chance für eine ganze Gesellschaft, die in der Gefahr steht, das Wissen, die Techniken und Fertigkeiten zu vergessen, die zum Überleben und zum Miteinanderleben wichtig sind? Gerade in den gegenwärtigen Beschränkungen unseres Lebens sind wir alle auf vieles angewiesen, was zu neuen Ehren kommt: etwa einen leckeren Kuchen backen können, einen Brief schreiben können, eine Mundschutzmaske nähen können. 

Ich habe die Vermutung, die „Alten“ können besser  mit der Krise umgehen, weil sie das alles schon einmal erlebt haben. Man könnte ja auch umgekehrt fragen: Wer ist hier eigentlich ein Risiko? Sind nicht wir, die Menschen in der Phase des Mittelalters oder die „Jungen“ mit ihrer Art, das Leben zu leben, viel mehr Risiko? Zeigt sich nicht in dieser Krise die Kehrseite einer Risikogesellschaft, die nach immer höheren Profiten, nach immer schnellerer Taktung und nach immer grenzenloserem Wachstum lechzte? 

Die „Alten“ nur durch die Brille ihrer altersbedingten Risikohaftigkeit zu betrachten, macht sie zu bloßen Empfängern sozialer Fürsorge und blendet das aus, was wir alle an unseren „Alten“ haben, nämlich:

  • ihre krisenerprobte Erfahrung,
  • ihr Überlebenswissen,
  • ihr Improvisationstalent, 
  • ihren bodenständigen Pragmatismus,
  • ihre unbekümmerte Hilfsbereitschaft
  • und ihr bisweilen unbeugsamer Mut und ihre Zuversicht, selbst Hand anzulegen.

Das lernen wir aus der Krise: Bloße biologische Lebendigkeit ist nicht alles. Auch das Leben im Alter kann durch Gottes Gnade in kraftvoller Fülle gestaltet werden.

Ihr Pfarrer Carsten Schleef