Zu meinen ritualisierten Gewohnheiten gehört das morgendliche Lesen der Zeitung am Frühstückstisch. Das ist mir wichtig: gleich zu Beginn des Tages informiert zu sein; zu wissen, was in der großen weiten Welt so alles passiert ist und im Lokalteil Menschen wiederzuerkennen, die ich kenne. Und ich mag das: Das Rascheln des Zeitungspapieres, die Seiten so zu falten, wie ich das will; ja ich erlaube mir ein geradezu sinnliches Erlebnis bevor die Pflichten des Alltags anstehen.
Diese Leidenschaft teilen immer weniger Menschen. Neben dem Kostengrund, sagte mir neulich ein Mensch auf der Straße: „Nein, also die Zeitung hätte er jetzt abgestellt. Die würden ja doch nur schlechte Nachrichten verbreiten. Er könne das einfach nicht mehr aushalten.“
Ja, wir haben ein Problem. Die Menschen vermissen das Positive. Die Flut der Ereignisse der letzten Jahre und Monate hat niemandem eine Wahl gelassen. Alle waren wir betroffen, keiner konnte sich den Bedrohungen entziehen: dem Virus, der Angst, dem Kontaktverbot, dem Streit über richtiges und falsches Denken, der russischen Aggression, dem Mitleid mit der Ukraine, der Rohstofferpressung, dem atomaren Szenario, den immer steigenden Preisen. Und der Winter kommt erst noch.
Keiner blieb davon unberührt. Aber diese Flut an schlechten, bedrückenden Nachrichten hat eine Wahrheit verdrängt, die tief im Inneren aller Menschen verankert ist. Das Leben ist mehr! Das Leben ist mehr als Bedrohung, Erpressung, Krieg, Pandemie und Unsicherheit. Das Leben ist ein Blick, eine Umarmung, ein Atemzug, ein Geruch, eine Erinnerung, ein Traum, und darum ist es auch ein Danken und Loben. Daran erinnert uns der Psalmbeter: „Lobe den Herrn meine Seele und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat.“
Im Blick auf uns und unser Leben, sehe ich dieses Gute auch darin, dass ganz normale Menschen normale Dinge tun und so dafür sorgen, dass wir unser normales Leben jeden Tag wiedererkennen, auch wenn die Dinge nicht alle so funktionieren, wie wir uns das im besten Fall wünschen. Dass es dennoch jeden Tag weitergeht, verdanken wir diesen normalen Menschen, die den Zusammenbruch jeden Tag verhindern. Wenn wir so wollen, verdanken wir es uns selber.
Danken und Loben – darin drückt sich eine besondere Haltung aus. Ja das Leben ist auch eine Haltung. Aus der Haltung der Dankbarkeit heraus leben, ohne den realistischen Blick auf die Verhältnisse zu verlieren. Wer danken kann, muss deshalb nicht alles gutheißen. Wer danken kann, kann sich dennoch den ehrlichen Blick auf die Welt bewahren. Aber er sieht eben auch das Positive, die gute Nachricht.
Denn das Leben ist mehr. Es ist auch die gute Nachricht, dass es einen Gott gibt, der diese rätselhafte, so unsichere Welt abgrundtief liebt. Das Leben ist mehr. Es ist auch ein Wort, ein Gedanke, eine Erkenntnis, ein Kuss, es ist ein Glauben, Hoffen und Lieben. Warum nicht mehr davon erzählen, wo immer uns das möglich ist. Wäre das nicht ein Programm für eine Kirche von morgen?
Pfarrer Carsten Schleef