Das Lied der Miriam

2 Mose 15, 19 – 21 Das Lied der Miriam
Denn der Pharao zog hinein ins Meer mit Rossen und Wagen und Reitern. Und der HERR ließ das Meer wieder über sie kommen. Aber die Israeliten gingen trocken mitten durchs Meer.21 Und Mirjam sang ihnen vor: Lasst uns dem HERRN singen, denn er ist hoch erhaben; Ross und Reiter hat er ins Meer gestürzt.

Die Zeit der Sklaverei, der Gewalt und Unterdrückung ist vorbei. Das auserwählte Volk hat es geschafft. Und Gott hat persönlich eingegriffen, um den Bedrängten gegen die überlegende Macht der Gewalt zu helfen.

Ich denke, man kennt die Geschichte von der Gefangenschaft des Volkes Israel in Ägypten. Lange hatte das Volk gelitten in Ägypten. ohnmächtig war es den Folterungen der Übermacht ausgeliefert: Sklavendienste, Hunger, Erniedrigung, Vergewaltigung, ja selbst willkürlicher Mord an Erwachsenen und sogar Kindern war an der Tagesordnung.
Doch irgendwann reichte es. Das Volk zog aus, entfloh der Unterdrückung. Und Gott, er griff ein. So wie am Schilfmeer, wo das Meer sich teilte, das Volk der ehemaligen Sklaven und Sklavinnen trockenen Fußes hindurchzog, da vernichtete er die Übermacht der Unterdrücker.

Das besingt die Prophetin Miriam gemeinsam mit allen Frauen des unterdrückten Volkes, die immer und überall und zu allen Zeiten am meisten unter der Unterdrückung zu leiden haben.
Und die Prophetin Miriam stimmt ein Loblied an, haut mächtig auf die Pauke. Ein Loblied auf Gott, der die Unterdrückten beschützt, der die Übermacht der Gewalt besiegt und in das Land der Freiheit führen wird.

Aber ich frage mich, was haben die Frauen vorher gesungen? In den Zeiten der Sklaverei, lieber Gott. Wie klangen da die Gebete und Lieder der Frauen?
Wenn sie erfuhren, dass die Tochter auf den Weg zum Wasserholen von der Patrouille vergewaltigt wurde, wenn sie erfuhren, dass der Bruder auf der Baustelle erschlagen wurde, weil er nicht schnell genug war.
Wie klangen die Lieder der Frauen, als die Soldaten des Pharaos in die Häuser eindrangen, um die Kinder zu töten?
Und ich frage mich, wie die Lieder missbrauchter Kinder und ihrer Angehörigen heute klingen mögen, von deren Schicksal wir immer wieder in den Zeitungen lesen und in den Nachrichten erfahren, in Bergisch Gladbach, in Lügde und anderswo und leider überall in unserem Land und überall in dieser Welt.
Ich denke, da gibt es keine Lieder. Und allzu oft nur Schweigen.

Aber Herr, mit dem Schweigen ist heute nicht Schluss. Es reicht. Auch wir wollen uns aufmachen, wie damals das Volk Israels. aufstehen gegen all die sinnlose Vernichtung, den Missbrauch und die Willkür, die jeden Tag wieder so unsagbar vielen Frauen, Mädchen und Jungen passiert.
Herr, gib uns Wut, aufzustehen gegen jede Form des Missbrauchs, die so alltäglich geworden ist.
Herr, gibt uns die Kraft, den Tätern Einhalt zu gebieten, die sich an den Seelen und den Körpern der Mädchen und Frauen vergehen.
Herr, gibt uns die Liebe, den Opfern beizustehen, und ihnen das zu geben, was sie zum weiterleben brauchen.
Herr, gib uns die Geduld, denn der Weg wird lang werden.

Die Zeit des Schweigens ist vorbei. Wir wollen auf die Pauke hauen, wie damals Miriam. Laut werden. Anstinken gegen das Unrecht. Herr, hilf uns dabei, wie du damals dem bedrängten Volk am Meer geholfen hast. Und jetzt bitte ich Sie und euch alle: Erhebt eure Stimme, macht Krach, seid laut, brecht das Schweigen und die Stille. Beim Grabschen auf der Arbeitsstelle, werdet laut wie Miriam mit der Pauke. Bei sexistischer Werbung, werdet laut wie Miriam mit der Pauke. Bei frauenverachtenden Bemerkungen in der Kneipe, werdet laut wie Miriam mit der Pauke. Wenn gegen ihren Willen Kinder gezwungen werden, werdet laut wie Miriam mit der Pauke. Jeder und jede an ihrer oder seiner Stelle.
Nur wenn wir das Schweigen brechen, werden wir eine Chance haben, uns dem Land der Freiheit zu nähern. Wie damals das Volk Gottes in der Wüste. Amen

Pfarrer Albi Roebke