Ein „Wort an die Menschen“

Liebe Gemeinde,

jede Sitzung des Presbyteriums beginnen wir – so sieht es auch die Kirchenordnung, sozusagen das Grundgesetz der Evangelischen Kirche im Rheinland (EKiR), vor – mit einer Andacht. In einer der letzten Presbyteriumssitzung hat ein Presbyter, der die Andacht vorbereitet hatte, uns darin den Abwurf der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki vor 75 Jahren eindrucksvoll ins Gedächtnis gerufen und gleichzeitig auf die bleibende Aufgabe, Frieden zu schaffen und zu erhalten, aufmerksam gemacht.

Auch heute, der 1. September, ist ein solcher Tag, der uns daran erinnert. Am 1. September 1939 begann mit dem Überfall deutscher Truppen auf Polen der Zweite Weltkrieg.

Mir fiel schon bei der bewegenden und nachdenklich stimmenden Andacht im Presbyterium ein „Wort“ Albert Schweitzers ein, sein „Wort an die Menschen“, das er 1964 anlässlich seines 90. Geburtstag aufgenommen hat und das dann weltweit übertragen wurde.

An diese Mahnung zum Frieden möchte ich hier heute erinnern; Schweitzers „Wort an die Menschen“ hat an Aktualität rein gar nichts eingebüßt:

„Ich rufe die Menschheit auf zur Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben. Diese Ethik macht keinen Unterschied zwischen wertvollerem und weniger wertvollem, höherem und niederem Leben. Sie lehnt eine solche Unterscheidung ab. Denn der Versuch, allgemeingültige Wertunterschiede zwischen den Lebewesen anzunehmen, läuft im Grunde darauf hinaus, sie danach zu beurteilen, ob sie uns Menschen nach unserem Empfinden näher oder ferner zu stehen scheinen. Dies aber ist ein ganz subjektiver Maßstab. Wer von uns weiß denn, welche Bedeutung das andere Lebewesen an sich und im Weltganzen hat? Die Konsequenz dieser Unterscheidung ist dann die Ansicht, dass es wertloses Leben gäbe, dessen Vernichtung oder Beeinträchtigung erlaubt sei. […]
Die unmittelbare Tatsache im Bewusstsein des Menschen lautet: ‚Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will.‘ […]
[…] In dieser Zeit, in der Gewalttätigkeit sich hinter der Lüge verbirgt und so unheimlich wie noch nie die Welt beherrscht, bleibe ich dennoch davon überzeugt, dass Wahrheit, Friedfertigkeit und Liebe, Sanftmut und Gütigkeit die Gewalt sind, die über aller Gewalt ist. […] Alle gewöhnliche Gewalt in dieser Welt schafft sich selber eine Grenze, denn sie erzeugt eine Gegengewalt, die ihr früher oder später ebenbürtig oder überlegen sein wird. Die Gütigkeit aber wirkt einfach und stetig. Sie erzeugt keine Spannungen, durch die sie sich selbst aufhebt, sondern sie entspannt die bestehenden Spannungen, sie beseitigt Misstrauen und Missverständnisse.
Indem sie Gütigkeit weckt, verstärkt sie sich selber. Deshalb ist sie die zweckmäßigste und intensivste Kraft. Was ein Mensch an Gütigkeit in die Welt hinausgibt, das arbeitet an den Herzen der Menschen und an ihrem Denken. Unsere törichte Schuld ist, dass wir nicht ernst zu machen wagen mit der Gütigkeit. […]
Die Not aber, in der wir bis heute leben, ist die Gefährdung des Friedens. […]
Ich bekenne mich zu der Überzeugung, dass wir das Problem des Friedens nur dann lösen werden, wenn wir den Krieg aus einem ethischen Grund verwerfen, nämlich weil er uns der Unmenschlichkeit schuldig werden lässt. […]
Mögen die, welche die Geschicke der Völker in Händen haben, darauf bedacht sein, alles zu vermeiden, was die Lage, in der wir uns befinden, noch schwieriger und gefahrvoller gestalten könnte.
Mögen sie das wunderbare Wort des Apostels Paulus beherzigen: „Soviel an euch liegt, habt mit allen Menschen Frieden!“ Es gilt nicht nur den einzelnen, sondern auch den Völkern.“
[aus: Albert Schweitzer, Vorträge, Vorlesungen, Aufsätze, München 2002, S. 398ff.]

Ihr Pfarrer Gregor Wiebe